EU legt weiterhin problematische Fanggrenzen fest

Trotz einer solide verfassten Fischereipolitik ignorieren die Minister oft die wissenschaftlichen Empfehlungen, sagt Experte Philippe Cury

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Die Reform des übergeordneten rechtlichen Rahmens für die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) der Europäischen Union im Jahr 2013 enthält eine wichtige Verbesserung: Das Ziel bei der Festlegung der Fanggrenzen ist jetzt das Erreichen des höchstmöglichen Dauerertrags (MSY – Maximum Sustainable Yield) – des höchsten Niveaus, auf dem eine erneuerbare natürliche Ressource regelmäßig ohne ihre langfristige Erschöpfung genutzt werden kann. Mit dieser Änderung wollen die politischen Entscheidungsträger die Fischbestände schrittweise auf eine oberhalb des langfristig nachhaltigen Niveau liegende Größe anwachsen lassen und diese erhalten, anstatt wie bisher nur darauf hinzuwirken, dass die Bestände nicht zusammenbrechen.

Fünf Jahre nach der GFP-Reform befragte The Pew Charitable Trusts zwei Fischereiwissenschaftler, wie die EU die MSY-Grenzwerte umsetzt und was die Fischereinationen tun, um diese einzuhalten. Im ersten Gespräch unterhält sich Jean-Christophe Vandevelde, der Pews‘ Bemühungen um die Beendigung der Überfischung in Nordwesteuropa unterstützt, mit Philippe Cury, Ph.D., einem mehrfach ausgezeichneten Meereswissenschaftler und Autor. Cury ist leitender Wissenschaftler am Institut de Recherche pour le Développement der französischen Regierung und vertritt dieses Institut bei den EU-Institutionen in Brüssel Cury ist darüber hinaus Mitvorsitzender des EuroMarine Consortium, eines europäischen Netzwerks für Meeresforschung, das gegründet wurde, um die Identifikation und Entwicklung wichtiger neuer wissenschaftlicher Themen und Probleme und damit verbundener Methodologien in den Meereswissenschaften zu unterstützen.

Das Gespräch wurde per E-Mail auf Französisch geführt und ins Deutsche übersetzt.

Vandevelde: Die GFP definiert die Grenze der fischereilichen Sterblichkeit anhand des MSY und zielt darauf ab, alle Bestände wieder auf ein Niveau aufzustocken, das noch oberhalb der diesen Ertrag erbringenden Menge liegt. Was ist Ihre Meinung zu diesen Zielen?

Cury: Die reformierte GFP stellt einen großen Fortschritt dar und hat sich nun zum Ziel gesetzt, alle Bestände auf nachhaltige Größen zu bringen, um die Produktivität der Meere wiederherzustellen. Dies hätte schon vor vielen Jahren unser Ziel sein sollen, wie es auch in anderen Ländern wie beispielsweise in den USA und in Australien der Fall war, die sich über die Vorteile dieser Maßnahme im Klaren waren. Die Wiederauffüllung der Fischbestände auf nachhaltige Größen lässt sich nur mit Fanggrenzen erreichen, die auf oder unter dem MSY liegen. Die Wiederauffüllung der Fischbestände wird durch den Erhalt widerstandsfähiger und produktiver natürlicher Systeme ebenfalls dazu beitragen, die Auswirkungen des Klimawandels zu mindern.

F: Erreicht die EU die Ziele der GFP?

A: Wir müssen Geduld haben, denn die Natur braucht ihre Zeit und ist manchmal unberechenbar. Aber \[das Ziel der] Erholung der Fischbestände durch Festlegung von Fanggrenzen durch den Europäischen Ministerrat ist etwas, was jetzt erreicht werden kann. Ich hoffe, dass diese Bemühungen erfolgreich sein werden, denn sie ermöglichen dem europäischen Fischfang eine Zukunft. Ohne Fische gibt es auch keine Fischer mehr. Das jahrzehntelange Fehlen einer vernünftigen Bewirtschaftung hat zu einer stetigen Abnahme der Zahl der Fischer geführt, da ihr Beruf ihnen keine wirtschaftlichen Anreize mehr bot. Die Auffüllung der Bestände ist eine notwendige Voraussetzung für eine nachhaltige Fischerei. Nichtsdestoweniger erfordert eine nachhaltige Fischerei auch eine globale Vision, die alle Interessenvertreter miteinbezieht und die den ethischen Konsum von Meeresprodukten fördert, Akteure zur Konsolidierung der Arbeitsplätze in der Fischerei bewegt, auf einen selektiveren Fischfang und weniger energiefressende Boote setzt und Meereslebensräume respektiert. Schließlich erfordert sie auch ehrgeizige Ziele bezüglich der Informationen über Meeresressourcen und die unterstützende Erforschung und Bewertung dieser Ressourcen.

F: Es gibt eine Reihe von Beständen, für die keine MSY-Daten vorliegen. Wie können diese Bestände bewirtschaftet werden, damit sie den Zielen der GFP entsprechen?

A: Derzeit werden über 35 Prozent der Bestände des Nordostatlantiks nicht bewertet. Im Mittelmeer und im Schwarzen Meer liegt die Zahl bei 68 Prozent. Darüber hinaus gibt es nur für 10 Prozent der europäischen Bestände wissenschaftliche Gutachten zu den Bestandsgrößen. Es ist ein bisschen so, als würde man ein Unternehmen führen, ohne den Lagerbestand zu kennen. Dies stellt ein ernsthaftes Problem dar, denn das Fehlen der Bewirtschaftung führt früher oder später unweigerlich  zu Überfischung und damit letztendlich zum Verschwinden von Fischen und der Fischerei. Aufgrund des Mangels an ausreichenden Daten verwenden Wissenschaftler datenarme Methoden (d. h. nur die wenigen verfügbaren Fischereidaten), die jedoch nicht ausreichen, um Fangmengenziele festzulegen. Der zu verfolgende Ansatz sollte auf Vorsorge beruhen. Wenn wir im Grunde nichts über eine Art wissen, dürfen wir sie nicht befischen, sondern sollten stattdessen mit einer wissenschaftlichen Beobachtung beginnen. Alle Fischereien der Welt, die nachhaltig bewirtschaftet werden, werden zugleich wissenschaftlichbewirtschaftet.

F: Trotz solider wissenschaftlicher Gutachten und einer reformierten GFP legen die EU-Fischereiminister oft jährliche Fanggrenzen fest, die oberhalb der Empfehlungen der Wissenschaftler liegen. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür und welche Folgen wird dies wahrscheinlich haben?

A: Dies ist nicht akzeptabel. Heute überschreiten 44 Prozent der von den Entscheidungsträgern festgelegten zulässigen Gesamtfangmengen (TAC) die Empfehlungen der Wissenschaftler. Die Minister verhandeln über die Fangquoten genau so, als würde es dabei um Milchquoten oder Tierproduktionen wie Schweine oder Geflügel gehen – also um kontrollierte Produktionen. Fische sind unsere letzte wilde Ressource, die industriell genutzt wird. Diese Ressource fluktuiert – manchmal drastisch – von einem Jahr auf das andere, und dies muss berücksichtigt werden, anderenfalls riskieren wir ihren Zusammenbruch. Die gewohnheitsmäßige europäische Überfischung hat schon zu vielen Katastrophen geführt. Ein Befolgen der wissenschaftlichen Empfehlungen \[bezüglich der Fanggrenzen] ermöglicht es, im Rahmen dessen zu bleiben, was die Natur produzieren kann. Fangquoten festzulegen, die oberhalb der wissenschaftlichen Empfehlungen liegen, ist Zeichen eines eklatanten Mangels an Kenntnissen über die Meeresumwelt. Die Minister müssen den wissenschaftlichen Empfehlungen genau folgen, denn mir ist keine alternative Methode zur effektiven Bewirtschaftung einer wilden erneuerbaren Ressource bekannt.

F: Wie sieht eine nachhaltige Fischereibewirtschaftung aus?

A: Einer nachhaltigen Fischereibewirtschaftung muss ein ökosystemorientierter Ansatz zugrundeliegen, der über das bloße Überleben \[einzelner Arten] hinausgeht und darauf abzielt, Erhaltung und Nutzung in Einklang zu bringen. Dieser Ansatz berücksichtigt die Wechselwirkung zwischen den im Ökosystem existierenden Arten (beispielsweise nicht nur Beutefische, sondern auch die Seevögel, die von ihnen als Nahrungsquelle abhängig sind), wie die Fischerei die Lebensräume beeinflusst (zum Beispiel die Auswirkungen des Schleppnetzfangs auf den Meeresboden) und die biologische Vielfalt (Beifang, Rückwürfe usw.). Das wichtigste Ziel dabei ist, die Gesundheit aller Nahrungsnetze und die Gesamtproduktivität des Meeres zu erhalten. Dieses Konzept hat sich in den letzten Jahren wesentlich weiterentwickelt – ausgehend von einem mathematischen MSY-basierten Modell aus den 50er-Jahren, das sich ausschließlich auf die einzelnen Arten und nicht auf das gesamte System konzentrierte. In den Zielen für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, die andere globale, die Fischerei betreffende Herausforderungen wie Klimawandel, Armut, Beschäftigung, Ernährungssicherheit und Gleichstellung ansprechen, sollte eine nachhaltige Fischereibewirtschaftung ebenfalls als Faktor berücksichtigt werden.

Lesen Sie unser zweites Interview mit Didier Gascuel, Professor für Fischereiwissenschaft und Leiter der Abteilung Fischerei und Wasserwissenschaften von AgroCampus Ouest in Rennes, Frankreich.

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